... versetzen wir uns einmal etwas mehr als 100 Jahre zurück ...
Rezension von "Alvine Hoheloh, Blaustrumpf" - historischer Liebesroman von Amalia Frey 📝 [↓] & Ton 🔊 [ ↳ ]
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5 Sterne für einen historischen Roman, der geschichtliche und individuelle Entwicklungen gleichermaßen betrachtet: detailliert, unterhaltsam, faszinierend, mit Sogpotenzial, das nach Lesen von Band #1 Hunger (Nicht bloß Appetit!) auf mehr wach kitzelt.
⭐ ⭐ ⭐ ⭐ ⭐
📝 Inhalt
(Das sagt die Autorin selbst über ihren Titel - Klappentext)
Mitteleuropa 1910:
Zeit der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche.
Monarchie und Demokratie. Reich und Arm. Tradition gegen Freigeist. Zweckbündnisse jedoch müssen halten – bis zum bitteren Ende.
Alvine Hoheloh könnte studieren gehen, aber auch das Unternehmen ihrer Familie leiten. Sie könnte den Mann heiraten, den sie liebt, oder einen reichen. Sie könnte frei sein oder Ehefrau. Freundin oder Geliebte. Eine respektable Frau oder glücklich.
Alvine will alles.
So wirkt der Roman auf mich
Ich habe diesen Roman mit großem Vergnügen gelesen, die Figuren mit Interesse verfolgt. Das historische Umfeld ist mir grob vertraut und die Story scheint mir sinnvoll eingebettet. Hilfreich ist die Tatsache, dass die Autorin eine Übersicht über die Verwandtschaftsverhältnisse und weitere wichtige Figuren ihrer Story in Form eines Übersichtsbildes beigefügt hat. Allerdings fand ich das nicht unbedingt notwendig, denn die Handlung fügt nur nach und nach Protagonisten hinzu, sodass ich mich nicht überfordert fühlte: Kein Zurückblättern, kein genaueres Nachlesen sind notwendig, um den Überblick zu behalten, wer wer ist. Hier hebt sich das Werk positiv von so manchem recht kompliziert erzählten historischen Roman ab.
Sprache
Historische Romane versuchen häufig die Sprache der jeweils porträtierten Zeit zu übernehmen. Damit kommen sie meiner Lust an der Komplexität der deutschen Sprache, die zu den Bestausgebauten der Welt zählt, sehr entgegen: Es gibt so viele Vokabeln, Idiome, Fachbegriffe, mit denen man ebenso präzise wie unterhaltsam erzählen kann! Leider verschwinden diese Präzision und Vielfalt zunehmend aus unserer Literatur. Viele Autoren verwenden seitenweise nur Hilfsverben (sein & haben), Modalverben (können, sollen, müssen und so weiter) oder es werden schlichtweg die Universalverben machen und tun über den Text gekleistert, der daraufhin in einer wenig befriedigenden Schlichtheit stecken bleibt, egal, wie gut seine Grundideen ausfallen mögen.
Hier hebt sich Amalia Frey mit einem geschliffenen vielseitigen Ausdruck ausgesprochen wohltuend von vielen aktuellen Publikationen positiv ab. Der eine oder andere kleine Fehler hat sich dabei eingeschlichen und auch das Lektorat überstanden, aber das stört den positiven Gesamteindruck für mich nicht.
Manchmal skizziert die Autorin lediglich, dann wieder erfolgen detaillierte Beschreibungen (beispielsweise der Raum, in dem A. H. eine Prostituierte bei der Arbeit beobachten darf, um eine Vorstellung von der Vielfalt sexuellen Treibens zu bekommen), die Bilder im Kopf entstehen lassen. Bisweilen winzige Hinweise werden eingestreut, die ich beim Lesen erst allmählich als wichtig habe deuten lernen - und die in der sich in den folgenden Bänden entwickelnden Handlung sicher zur Entfaltung gebracht werden. Hier werden dem Lesehunger gekonnt Appetizer serviert.
Gendern
Bei diesem Werk handelt es sich um das Erste, das ich gelesen habe, um es anschließend zu besprechen, welches eine gegenderte Sprache pflegt und von einer Sensitivity-Readerin lektoriert wurde. (Das ist jemand, der einen Text dahingehend überprüft, ob Klischees bzw. Vorteile darin enthalten sind, und diese gegebenenfalls vor der Veröffentlichung [natürlich in Absprache mit dem Verfasser] verschwinden lässt.
Zum Gendern: Ich bin Baujahr 1962, also die Mehrheit meines Lebens musste ich damit zurechtkommen, dass meine Interessen als Frau sich in der vorwiegend männlich geprägten Sprache nicht widergespiegelt haben. Ich persönlich bin kein Freund (und auch keine Freundin 😉) des Genderns, empfinde die sprachlichen Verwerfungen, die dadurch gegebenenfalls entstehen, als störend und den Lesefluss behindernd. (Meine sexuelle Identität ist weder in ihrer Entwicklung noch in ihrer Ausprägung durch das männlich dominierte Sprachumfeld jemals behindert oder gestört worden - und es war - verdammt nochmal - in den 1960er Jahren noch ganz schön schwierig, durchzusetzen, mit den Jungs in der Nachbarschaft gleichberechtigt zu kicken oder aus der Mädchenabteilung in der Bibliothek in den Bereich für Jungen zu wechseln. Aber es hat geklappt, auch ohne "Wortungetüme" zu kreieren ... Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass es weniger auf Wortetiketten ankommt, als darauf, wie ich mich verhalte, um meinen Weg frei wählen zu können.)
Aber: Wenn eine Autorin in ihrem Text gendern will, dann ist das ihre Sache, bleibt einzig und allein ihre Entscheidung, denn ein Reiz beim Schreiben liegt darin, das Verfasser in ihren Texten die absolute schöpferische Macht besitzen, also tun und lassen können, was ihnen beliebt. Das respektiere ich. Selbstverständlich.
Faszination Unschuld
Wir befinden uns heute in der Lage, dass Sexualität kein Tabuthema mehr ist. Es gibt eine Sprache, die sexuelle Orientierungen eindeutig bezeichnet, Gefühlen einen angemessenen Namen gibt und sexuelle Praktiken benennt. Kinder und Jugendliche werden via Lehrplan bereits in der Schule aufgeklärt. Im Fernsehen und am Zeitungskiosk gibt es dann gegebenenfalls neben der unerschöpflichen Vielfalt der Quellen im Internet noch Anschauungsunterricht. Unschuld im Sinne von Unerfahrenheit existiert heute mit Sicherheit noch, aber das Ausmaß an Unwissenheit hinsichtlich der eigenen Sexualität, für die buchstäblich auch die Worte fehlten, wie die Heldin des vorliegenden Romans sie aushalten muss – dergleichen sollte heute in Deutschland nicht mehr existieren.
Die Tatsache, dass wir Sexualität in unserer Umgebung geradezu gewohnt sind, verändert u. a. Reizschwellen: Sexuelle Eindrücke und Empfindungen müssen bei uns deutlich ankommen, um wahrgenommen zu werden. Die vollkommene Unschuld der Alvine Hoheloh nimmt uns selber uns selber beim Lesen möglicherweise ein Stück weit gefangen, macht uns sensibler für Dinge, die das Geschlechtsleben betreffen. Sie werden meiner Meinung nach dadurch bewusster und die eigene Sensibilität, die angesichts der üblichen Reizüberflutung rundum vielleicht hier und da deutlich gesunken ist, steigt wieder. Daher finde ich diesen Roman in einem absolut mehrdeutigen Sinne des Wortes positiv reizvoll.
Plot
Gelungener Auftakt zu einer Reihe, der am Ende buchstäblich "das Messer im Schwein stecken lässt": Die Autorin lässt Alvine samt ihrem Theo, die uns beide im Verlauf der Lektüre ans Herz gewachsen sind, in einem Dilemma stecken, von dem ich als Leser nur hoffen kann, dass es sich im nächsten Band zum Guten (Ich bin eine bekennende Happyend-Süchtige.) auflöst.
Die Protagonisten bringen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position, ihres familiären bzw. sozialen Hintergrundes interessante Anknüpfungspunkte zum historischen Umfeld mit. Ja, ein Roman arbeitet oft wie ein Brennglas, darf und soll das durchaus, denn das Leben 1.0 kennen wir ja, aber manchmal blitzte bei der Lektüre schon in meinem Kopf angesichts all der bedeutungsschwangeren Querverbindungen ein ungläubiges "Echt jetzt ...?" im Hinterkopf auf. Gestört hat mich dieser Gedankensplitter beim Lesen aber nicht wesentlich. Ich denke, das Plot ist sorgfältig um den historischen Kontext mit interessanten Figuren herumkonstruiert: gutes Handwerk.
POC
People of Color. Neben der allgegenwärtigen Triebfeder der S€xualität, die die Handlung voranbringt, ein wichtiger Aspekt des Werks, denn die Autorin verknüpft eine gewisse Freiheit und Weitsichtigkeit des Denkens mit dem Vorhandensein einer etwas dunkleren Hautfarbe als in Deutschland üblich: genug Pigment, um sich abzuheben - nicht zu viel, um gesellschaftlich randständig zu geraten.
Der erblich bedingte Pigmentierungsgrad der Haut wurde am Beginn des 20. Jahrhunderts sicher anders wahrgenommen als heute, entschied seinerzeit wesentlich rigoroser über gesellschaftliche Akzeptanz oder Ablehnung in Mitteleuropa. Die im Buch angewandte Formel, dass eine gewisse Gendosis aus Menschen Betroffene macht, die wegen eben dieser Betroffenheit in Sachen POC anders reagieren als der Standardeuropäer, mag stimmen - aber ob sie alle dadurch tatsächlich toleranter oder klarsichtiger werden, halte ich für fraglich. Allerdings: Auch hier gilt, dass der Autor die Macht hat, die Dinge nach seinem Willen zu erzählen.
Warum ich nicht in jeder Hinsicht kompetent rezensieren kann
Um es gleich vorneweg deutlich zu sagen: Das kann niemand. Außerdem: Mein Geschichtsunterricht war nicht der Beste. Da klaffen gewaltige Lücken in meiner Bildung, die ich privat sicher nur unzulänglich gefüllt habe. Beim Lesen von Amalia Freys Auftaktband zur Buchreihe kann bzw. muss ich mich daher hinsichtlich der Korrektheit ihrer Recherche auf die Autorin verlassen - ich bin die falsche Person, in der Story historische Schwächen oder Ungereimtheiten aufzuspüren. Ich beziehe mich mit meiner Bewertung auf die o. g. Parameter - mehr nicht.
Fazit:
Liest sich prima, nimmt gut mit, handwerklich überzeugend.
Jedenfalls ist die im Roman aufgeworfene Frage, ob Beziehungen die individuelle Entwicklung behindern, immer noch / immer wieder aktuell: Das Werk betrifft uns also. Frauen wie Männer. Auch heute.
Daher insgesamt gerne ✪✪✪✪✪.
Technische Daten zum Buch / Impressum
©2021 Amalia Frey
kakaobuttermandel.de, amalia.frey@gmx.de
c/o Amalia Frey
Der Kleinste Buchladen
Reinsberger Dorf
Am Weinberg 1
99938 Plaue
2. Auflage 2021
Lektorat: Juliet May
Korrektorat: Gudrun Altmann
Sensitivity-Leserin: Melisa Naomi Harnisch
Buchsatz: Amalia Frey
Coverdesign: Mika M. Krüger
Coverfoto: Depositphoto
ISBN: 978-3-753169-37-8
🔊 Und hier die Buchkritik von ""Alvine Hoheloh, Blaustrumpf - Ein historischer Liebesroman von Amalia Frey" zum Nachhören
Teil 1 der Rezension
Teil 2 der Rezension
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Herzlichen Dank an die Autorin!
Die Amalia Frey hat mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt, wofür ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte! 😘
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