Spannend! Bewegend! Inspirierend! Am besten zwei Mal lesen!
Rezension in Text ๐ [↓] & Ton ๐ [ โณ ] von "Der Glanz verlorener Zeiten" von Karen Elste
๐>>>INHALT
Um es gleich vorneweg festzustellen: Karen Elstes Roman ist ganz großes Wortkino, dem ich gern mehr als fünf Sterne gäbe.
Ich habe nicht die geringste Lust, mich daran zu versuchen, dazu eine Inhaltsangabe anzufertigen, denn ich bin ziemlich sicher, dass ich hierbei scheitern muss. Wie soll ich beispielsweise die männliche Hauptfigur, Aubrey la Valette, einen Enddreißiger mit Wirtschaftsimperium und gutem Aussehen gesegnet, adäquat beschreiben? [Damit hier keine Missverständnisse aufkommen, möchte ich hier gleich Klartext sprechen: Nichts, aber auch gar nichts hat diese höchst komplexe Figur mit den Multimillionären zu tun, die derzeit – massenhaft Orgasmen an die hingebungsvolle Damenwelt verschenkend – durch meist flach konzipierte Buchreihen geistern!]
Der Roman von Karen Elste legitimiert dazu, Aubrey von schwarz bis weiß zu beschreiben: als Brudermörder oder Philanthropen, der zu Beginn des Zweiten Weltkrieges viel riskiert, um Juden die Flucht aus Deutschland zu ermöglichen. Die Attribute beziehungsscheu und kommunikationsunfähig stehen ihm ebenso gut wie höchst sensibel und aufgeschlossen, sodass ihm kein noch so kleines Detail aus und im Verhalten eines Gegenübers entgeht. Unfähig zu lieben und fähig zu tiefster Liebe. Vollkommen unkonventionell, aber doch soweit Teil der Gesellschaft und ihres Verhaltenskodex´, dass er heiratet, um damit Nachstellungen weiterer potenzieller Schwiegermütter zu entgehen. Jemand, der großzügig absolute Freiheit schenkt und gleichzeitig auf eine geradezu toxische Art abhängig, also unfrei macht.
Vergessen wir also die Angelegenheit mit der Inhaltsbeschreibung. Die hilft niemandem, wenn in dem Werk eine so gewaltige Bandbreite möglicher Wahrnehmungen der Figuren samt ihren Handlungen angelegt ist. Hier bleibt jeder Leser (Info: Ich gendere nicht!) sich selbst überlassen.
Nur so viel sei zum Inhalt gesagt: Eine junge Frau, Engländerin aus verarmtem Adel, heiratet kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mit 21 den knapp doppelt so alten Aubrey, Franzose. Das Buch, in Bezug auf die Hauptdarstellerin eine Art Adoleszenzroman, beschäftigt sich u. a. mit den Fragen, was eine Ehe, was und wie Liebe sein bzw. sich manifestieren kann, hinterfragt dabei kritisch Rollenbilder und skizziert Neue.
Zur Form: Die Handlung entfaltet sich auf dem historischen Hintergrund knapp vor dem Zweiten Weltkrieg und in dessen Verlauf überwiegend chronologisch erzählend, bisweilen in Form eines Briefromans, manchmal quasi als Spiegelschrift, indem das Werk ein Buch im Buch aufblättert. Dabei berichtet die Hauptdarstellerin leicht abgewandelt aus ihrem Leben – meiner Meinung nach ist es aber auch die Autorin selbst, die hier Einblicke in ihr Dasein gewährt in Bezug auf ihre Arbeitsweise, ihre Ansichten & Einsichten: Ganz schön mutig, die Hosen so weit herunter zu lassen ... und strukturell sozusagen eine weitere Buchebene im Text verschachtelnd!
๐ฌ >>>WARUM SPANNEND?
Ja, ich habe dieses Buch ausgesprochen schnell verschlungen. Es handelt sich bei dem Werk allerdings um alles andere als leichte Kost. Eher ungeeignet für schlichte Gemüter, die allerdings angesichts des flotten Handlungsflusses wahrscheinlich über die Tiefgründigkeit des Romans einfach hinweggezogen werden – ggf. ohne sie überhaupt zu bemerken.
Die Sprache, die Karen Elste verwendet, ist nicht kompliziert. In prägnante, dicht gepackte Formulierungen steckt die Autorin jede Menge Inhalt(e). Die schnörkellos-treffende Wortwahl entspricht dabei vollkommen harmonisch der Hauptdarstellerin, die als „völlig frei von Koketterie“ beschrieben wird – dabei handelt es sich um ein Kompliment. Die gnadenlose Direktheit des Ausdrucks korrespondiert mit den Kriegszeiten, in denen die Handlung spielt, sodass der „dem Krieg so immanente Tod eine Ehrlichkeit hervorbringt, zu der wir im Frieden gar nicht fähig wären und auch keine Notwendigkeit ... sähen.“
Das mag jetzt so klingen, als ließe sich der Roman nur mit Mühe, also einer gewissen geistigen Anstrengung lesen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Handlung fließt mitreißend dahin, trägt auf ein französisches Weingut, einen englischen Landsitz, nach London, New York und an die nahe gelegene, damals noch provinzielle Ostküste der USA: Mühelos, weil neugierig und emotional angesprochen, habe ich die Ortswechsel gern mit vollzogen.
Alice, die Hauptfigur des Romans, fühlt sich über weite Strecken ihres jungen Lebens so, als verstünde sie die Regeln, nach denen sie eine ihr unbekannt-unverständliche Rolle spielen soll, nicht: Tastend und suchend bemüht sie sich, die Grenzen auszuloten, zunächst, indem sie mit Konventionen als junges Mädchen bricht und so den eigenen Ruf ruiniert, wie man es damals nannte; im Anschluss an ihre Heirat ist ihr nicht klar, was ihr Ehemann von ihr erwartet. Ausgesprochen geschickt versteht es die Autorin, mich als Leser in all diese Unsicherheiten, Zweifel und Ungewissheiten ihrer Hauptdarstellerin mit hineinzuwerfen. Dadurch entsteht ein unwiderstehlicher Sog mitten in die Geschichte hinein, eine gewaltige Spannung beim Lesen, denn zumindest für mich fühlte es sich so an, als wäre ich selbst wieder 21, unerfahren, einigermaßen orientierungslos, ebenso emsig wie ziellos strampelnd wie ein Hamster im Laufrad, um festen Boden unter die Füße zu bekommen. Alice durchläuft im Verlauf des Plots eine hochinteressante individuelle Entwicklung vom Objekt zum Subjekt, während gleichzeitig die englische Gesellschaftsordnung, in die sie hineingeboren wurde, untergeht und der Text uns – sachlich vollkommen richtig – lapidar mitteilt: „Der Krieg wird auch die Frauen verändern.“
Ja, ich lese unter anderem deshalb Liebesromane, weil ich es mag, zwischen zwei Buchdeckeln mitzufiebern, ob Liebe gelingen kann. In Bezug auf die Beantwortung dieser Frage verlangt „Der Glanz verlorener Zeiten“ seinen Lesern eine Menge ab, gelangt aber zu einer bereichernden Tiefe, was seine Antworten angeht – finde ich!
โ >>>WIE WIRKT DAS BUCH AUF MICH?
Indem Aubrey seiner jungen Frau sagt: „Du gehörst mir nicht!“, und sie beispielsweise dazu auffordert, mit anderen Männern Sex zu haben, katapultiert er sie aus den ihr vertrauten Verhaltensnormen weit hinaus. Sie muss feststellen: „Aus der kleinen übersichtlichen Welt, die ich kannte, mit Regeln und Verstößen, deren Konsequenzen mir klar waren, ist etwas geworden, über das ich keine Übersicht mehr habe.“
Ihr Mann ermutigt sie, aus ihren zunächst nur privat unternommenen Schreibversuchen mehr zu machen, zu veröffentlichen. Ihr Lektor Blake beschreibt die Wirkung ihrer Texte auf ihn so: „Sie haben eine bedrückende Klarheit, die mich trifft, ohne dass ich sagen könnte, was es genau ist, was Sie in mir bewegen. Ich bleibe rastlos zurück und das gefällt mir.“
Ich teile Blakes Standpunkt: Die Lektüre macht mich unruhig, rückt – und das empfinde ich als wichtig – in den Fokus, dass es keine hundert Jahre her ist, dass es Frauen gab, die ganz darin aufgehen sollten, Gesellschaftsregeln zu befolgen, zu heiraten und neues Menschenmaterial für das bestehende System heranzuziehen, ohne auch nur ein Ei kochen, einen Wagen fahren oder einen Schlüssel im Schloss drehen zu können – die Schlüsselstellung in ihrem Leben nahm traditionsgemäß der Gatte ein oder die Haushälterin.
Gute Bücher unterhalten. Sehr Gute, wie dieses, geben den Anstoß zu einer Reflexion, weil sie unter die Haut gehen: Die Möglichkeiten, die mir heute offenstehen, sind u. a. das Erbe des Aufbruchs der o. g. Frauen ins Ungewisse jenseits der Zäune der Konventionen, in die sie hineingeboren wurden. Was bin ich ihrem Pioniergeist, ihren Opfern im unwirtlichen sozialen Neuland schuldig? Wie stark ist immer noch der Einfluss von unterschwellig transportierten Rollenmodellen, die die letzten 85 Jahre still und leise überstanden haben? Welche Anforderungen ergeben sich daraus an mich, an meinen Mut zum Aufbruch (Ausbruch?) in Bezug darauf, was ich für Ansprüche an mich und meine Partnerschaften stelle?
Wie gesagt: Ich bleibe rastlos zurück – und eine leise Stimme in meinem Kopf flüstert: ‚Du hast so viel! Mach was, mach noch mehr daraus!‘ Höre ich genau hin, hat das Buch tatsächlich eine Wirkung auf mich: Es lädt mich ein, meine eigenen Standpunkte hinsichtlich meiner Beziehungen zu überprüfen und, wenn nötig, zu ändern, damit ich [besser] fähig werde, das Potenzial dieser Kontakte auszuschöpfen: Bewegend im eigentlichen Sinn des Wortes, oder?
๐ >>>DAS COVER
Die Abbildung auf dem Cover kann der Vielschichtigkeit des Titels kaum gerecht werden. Ich hätte da eher auf ein Motiv gesetzt, das mit Brechung arbeitet, also ein Bild, das durch geschliffenes Glas in viele Facetten und Ebenen zerlegt erscheint. Das Cover scheint mir angesichts des Buchinhaltes deutlich zu konventionell, gibt viel zu wenig von dem preis, was der Inhalt zu bieten hat. Aber es ist zugegebenermaßen sehr schwierig, diesbezüglich einen angemessenen Weg zu finden.
โ >>>ACHTUNG: KUNSTGRIFF!
Erst am Ende von Kapitel 41 (Das Buch endet nach Kapitel 44 mit einem Epilog.) spricht Aubrey seine Frau das erste Mal mit ihrem Namen an: „Alice.“ Vorher erfährt man ihn lediglich aus dem Klappentext.
Jemanden bei seinem Namen zu nennen, wird schon in der Bibel als ein Ereignis von elementarer Bedeutung beschrieben. Hier erkennt Aubrey seine junge Frau (endlich) als gleichwertig an, eines Namens würdig, nachdem sie einander so „tief und nachhaltig verletzt“ haben, wie es nur in einer Liebesbeziehung möglich ist. Die andere Seite der Medaille ihrer Partnerschaft: In einer wahren Liebesbeziehung bietet sich die Chance, zu erfahren, „wie es sich anfühlt, für jemanden nicht nur eine Bürde, eine Last zu sein, sondern etwas, das das Leben schöner macht.“
Der Roman schürt die Sehnsucht genau danach bei mir – das Leben derjenigen, die ich liebe, schöner zu machen. Die rastlose Suche nach Möglichkeiten dazu wird mir hoffentlich nie zu schwer. Weil das Werk diese Gefühle in mir auslöst, empfinde ich es als inspirierend, und zwar in einem sehr positiven Sinne.
๐ >>>FAZIT
Voll Überzeugung und ein bisschen traurig, dass mir nicht mehr von dem Glitzerzeug zur Verfügung steht: 5 Sterne.
โญ โญ โญ โญ โญ
Der Roman bietet viel mehr, als das Cover vermuten lässt. Die Tiefe bzw. Vielschichtigkeit des Titels erschließt sich erst nach der Lektüre, wirft aber leider nicht appetitanregend ein Schlaglicht auf den Schatz, der sich beim Lesen heben lässt. Handwerklich sauber. Sprachlich absolut stimmig. Inhaltlich bereichernd! Unbedingt lesenswert – am besten zwei Mal, da eine einmalige Lektüre wahrscheinlich viel verpassen lässt.
๐ Und hier die Buchkritik zu "Der Glanz verlorener Zeiten" von Karen Elste zum Nachhören:
๐ Teil 1 der Rezension:
Weil nur kleine Audiodateien in diesem Blog gespeichert werden können, besteht diese Rezension aus einem ersten und einem zweiten Teil.
๐๐ Teil 2 der Rezension:
Link zur Autorenseite
Impressum
Erstausgabe Oktober 2022
Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
Made in Stuttgart with ♥
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98778-005-9
Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-039-4
Covergestaltung: ARTC.ore Design unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © carsthets, © Evgeny Karandaev, © Jenny's, © KathySG, © VerisStudio
Lektorat: Astrid Rahlfs
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Herzlichen Dank an dp!
Die DIGITAL PUBLISHERS GmbH hat mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt, wofür ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte! ๐
Bei dieser Rezension handelt es sich um eine Form unbezahlter Werbung.
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